[7 jahre reilstrasse 78 – selbstreflexion]
ENTSTEHUNG UND KONZEPT
Da inzwischen schon sieben Jahre seit der Besetzung vergangen sind, passiert es doch häufig, dass Leute, die regelmäßig auf dem Gelände verkehren (z.B. Konzert-/ PartybesucherInnen aber auch ProberaumnutzerInnen) sich nicht darüber im Klaren sind, was das eigentlich für ein Gelände ist, auf dem sie sich da gerade befinden. Weder wissen sie etwas über seine Entstehung, noch über seine Zielsetzungen und Ansprüche. Deshalb hier erst einmal in Kurzform die Entstehungsgeschichte und das Konzept. Wer dabei war oder eh schon alles weiß, springt halt einfach zum nächsten Punkt.
Das Projekt begann am 16.06.01 mit der Besetzung des ehemaligen Kinderheimes in der Reilstraße 78 gegenüber dem Zoo in Halle. Es sollte ein subkulturelles soziales und politisches Zentrum in Halle geschaffen werden, in dem sich Menschen mit den verschiedensten Ideen treffen können um ihre Vorstellungen von einem selbstverwalteten, selbstgestalteten und unkommerziellen Freiraum auszuleben. Aus den Erfahrungen vieler und dem politischen Verständnis einiger erschien eine Hausbesetzung das geeignete Mittel zu sein das Projekt umzusetzen. Zum einen war die Hausbesetzung eine Möglichkeit das Anliegen nach außen zu tragen, zum anderen war die Reilstraße 78 ganz konkret ein Ort an dem man aufgrund der Lage und Größe ein solches Projekt umsetzen konnte. Das Haus stand seit 4 Jahren leer und drohte zu verfallen. Das eine Hausbesetzung im Jahre 2001 anders umgesetzt werden muss als noch in den 80ern war jedem klar. So war die Besetzung ein Akt des zivilen Ungehorsams um unser politisches Anliegen gegenüber der Gesellschaft zu demonstrieren.
In der ersten Woche gab es erste Veranstaltungen, darunter eine „Besetzungsparty“, zu der ungefähr 400 Menschen kamen. Die meiste Zeit in den Anfangstagen ging mit Plena drauf, denn Basisdemokratie war nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg. Der Stadt wurde ein Fax geschickt, in dem über das Entstehen des neuen Zentrums informiert und gleichzeitig zu einem Gespräch eingeladen wurde. Erste Verhandlungen mit der Stadt führten dazu, dass uns ein Ultimatum zur Räumung des Geländes bis Freitag 12 Uhr gestellt wurde. Andererseits wurde am nächsten Tag die Chance auf einen Besuch der Stadtverordnetenversammlung genutzt. Dort wurde das neue Zentrum thematisiert, wobei klare Bekenntnisse zu unserem Projekt und zum Ultimatum eingefordert wurden. Das veranlasste wohlgesonnene ParlamentarierInnen sich von nun an für das Projekt einzusetzen. Die Stadt bot nun zwei wesentlich kleinere und am Rand der Stadt gelegene Objekte an, unter der Bedingung, dass das Gelände bis Freitag 12 Uhr geräumt ist, ansonsten würden die Verhandlungen mit uns abgebrochen. Dies löste im Plenum sehr kontroverse Diskussionen aus, ob Freitag 12 Uhr geräumt und verhandelt oder das Ultimatum ignoriert wird. Da die Ausweichobjekte inakzeptabel waren, wurde beschlossen nur über das bereits besetzte Objekt, Reilstraße 78, zu reden. Die Stadtverwaltung sah nun ein, dass das Nutzungskonzept nur auf diesem Gelände und in dieser Stadtlage zu verwirklichen war, hielt aber an dem Ultimatum fest und eröffnete uns Gesprächsbereitschaft in Bezug auf die Nutzung des Geländes, wenn doch geräumt würde. Eine Stunde vor Verstreichen des Ultimatums fand in der Reilstraße 78 ein weiteres Treffen mit UnterstützerInnen des Projektes statt, welche sich bei der Stadt einsetzten, woraufhin diese ein neues Angebot übermittelte: Würde bis Sonntag geräumt und eine juristische Person (Verein) benannt werden, würde die Stadt einen Nutzungsvertrag mit diesem abschließen. Plenum, Plenum, Plenum und es wurde sich entschieden das Haus zu räumen, da das Angebot der Stadt plausibel erschien. Zwei Wochen später wurde ein Nutzungsvertrag abgeschlossen und somit war der Weg frei die Idee eines selbstverwalteten, selbstgestalteten und unkommerziellen Freiraums umzusetzen.
Wie aber sah diese Idee eigentlich aus?
In dem Heft „Hurra wir leben noch – 1 Jahr Reilstraße 78“ vom 16. Juni 2001 wurde das Ganze so formuliert:
„wir wollen einen treff- und anlaufpunkt bieten für gruppen und personen, deren belange in einer zunehmend neoliberalen und leitkulturellen deutschen gesellschaft nur unzureichend berücksichtigt werden. wir wollen ein zentrum schaffen, in dem es möglich ist mit wenig geld seine freizeit sinnvoll zu verbringen. wir wollen der vorherrschenden gesellschaftlichen langeweile eigene soziale politische und subkulturelle projekte entgegensetzen. wir wollen ein subkulturelles, soziales und politisches zentrum und keine vereinzelten und unzureichenden anlaufpunkte für unsere aktivitäten. seit ca. 4 jahren steht das ehemalige kinderheim reilstraße 78 leer und verfällt langsam. es bietet platz für die verschiedensten projekte und aktivitäten. die räume eignen sich für konzerte / partys ebenso wie für seminare. die anzahl der räume lässt eine zusammenarbeit zwischen verschiedenen gruppen und projekten zu. das gelände bietet die möglichkeit zu sportlicher betätigung. wir wollen das haus instand setzen und einrichten sowie das gelände nutzbar machen. wir bieten einen anlaufpunkt für alle und die möglichkeit, sich freiwillig und gemeinnützig sinnvoll zu betätigen.
wir wollen eine jugendfreizeit fördern, die sich nicht am kommerziellen angebot der jugendindustrie orientiert, sondern eigene ideen verwirklichen will. wir wollen keine vorgegebenen angebote konsumieren, sondern unsere freizeit aktiv selbst gestalten. wir wollen dabei nicht abhängig sein von unserem geldbeutel oder dem unserer eltern. wir bieten konzerte & discos für wenig geld. wir bieten die möglichkeit und die räume eigene partys zu feiern. wir bieten platz für fuß- und basketballspiel sowie für tischtennis für die sportliche betätigung unabhängig von platzwart und hallenzeiten.
wir wollen begegnung mit menschen anderer länder und kulturen, nicht nur mit denen der ersten welt. Wir wollen anlaufpunkt sein für menschen anderer kulturen und ihnen dabei helfen sich in deutschland zurechtzufinden. Wir wollen selbstverständlichen und alltäglichen umgang mit menschen anderer länder bei gemeinsamer freizeitgestaltung und keine verordneten multikultifeste. Wir bieten beratung, hilfe und deutsch-sprachkurse. wir bieten ausländischen mitmenschen raum für selbstorganisierte begegnung. wir bieten raum für begegnung miteinander sowie für informationsvorträge und gemeinsame veranstaltungen. wir wollen eine subkultur, in der selbstverwirklichung und die kreative idee im mittelpunkt stehen und nicht kommerzielle zwänge. wir wollen eine subkultur, die gesellschaftliche gegebenheiten mit einbezieht und nicht fernab gesellschaftlicher probleme versucht, finanziellen ansprüchen gerecht zu werden. wir bieten auftrittsmöglichkeiten für junge bands und djs. wir bieten außerdem räume für ausstellungen junger künstler, für theater und performances, lesungen sowie für bandproben.
wir wollen nicht nur das lernen, was schule und andere institutionen uns vorgeben. Wir wollen informationen zu politischen themen, die uns interessieren und uns über gesellschaftliche gegebenheiten austauschen und diskutieren. wir bieten seminare, vorträge, workshops sowie sprachkurse und diskussionsveranstaltungen. wir wollen unsere kinder nicht allein in familie und den ihnen zugewiesenen räumen aufwachsen lassen. wir wollen, dass unsere kinder mit den verschiedensten menschen und kulturen selbstverständlich umzugehen lernen. wir wollen, dass die überbleibsel des kinderheims (klettergerüste und sandkasten) wieder von kindern genutzt werden. wir bieten bei bedarf raum für selbstorganisierte kinderbetreuung.
wir sind ein offenes und gemeinnütziges projekt, das allen wohlwollenden und interessierten mitmenschen offen steht. das projekt begreift sich als basisdemokratisch, entscheidungen werden von einem plenum per konsensprinzip getroffen und durch sprecherInnen nach außen vertreten. das projekt wirtschaftet nicht gewinnorientiert, die erlöse dienen der kostendeckung zum erhalt des projektes. das projekt ist selbstorganisiert und selbstgestaltet.“
Außer diesem Statement gibt es auch noch die offizielle Konzeption, die nötig war um den Verein zu gründen und den Nutzungsvertrag abzuschließen. Dieser Text drückt grundsätzlich das Gleiche aus, ist aber, da er für Institutionen geschrieben wurde und deshalb eine bestimmte Wirkung erzielen sollte, etwas weitschweifiger und sozialpädagogisch orientierter geschrieben. Dennoch werden wir bei der Behandlung bestimmter Punkte, zu denen die Konzeption einen Bezug hat, auch aus diesem Text zitieren.
AUF WIEDERSEHEN, LEBE WOHL, UND TSCHÜSS
ein kurzer Abriss von dem, was hier in den letzten sieben Jahren „gegangen“ ist
Wie die Überschrift bereits andeutet, waren die vergangenen sieben Jahre geprägt von Auseinandersetzungen, die auch zu Abschieden und Brüchen geführt haben. Diese Brüche haben allerdings nicht nur zu einer Verringerung der Anzahl der am Projekt Beteiligten geführt, sondern auch zu einer unfreiwilligen Veränderung der gesamten Projektstruktur, aber dazu später.
Was für das erste Jahr erwähnenswert ist, kann alles in dem bereits erwähnten Heft „Hurra wir leben noch – 1 Jahr Reilstraße 78“, welches ihr in unserem Archiv findet, ausführlich nachgelesen werden. Zur Erinnerung seien für diese Zeit noch einmal die wichtigsten Dinge erwähnt. Das waren zum Einen allgemein die Auseinandersetzungen mit der Stadt bzw. mit diversen Fraktionen im Stadtrat um das Hausprojekt an sich bzw. um Aktionen, die (angeblich) vom gesamten Projekt ausgingen (Machetenmann wir grüßen dich!). Der entscheidende Bruch fand dabei bereits ganz am Anfang, mit der Entscheidung sich überhaupt mit der Stadt einzulassen, statt, woraufhin einige politisch Engagierte bereits zu diesem Zeitpunkt dem Projekt enttäuscht den Rücken kehrten. Zum Anderen waren das Probleme mit Leuten, die offensichtlich nicht verstanden hatten worum es in diesem Projekt geht, wie z.B. mit einigen Punks, deren Aktivitäten sich auf saufen, kaputtmachen und vollmüllen beschränkten, wie z.B. mit „unserer ganz persönlichen Stalinistin“, die wohl nicht verstanden hat, dass Josef Stalin eher nicht so viel mit Basisdemokratie, Subkultur und freier politischer Diskussion zu tun hat und wie z.B. mit dem Vereinsvorsitzenden des „Vereins zur Förderung junger Musiker“, der wohl etwas überfordert von den Ansprüchen des Projektes war, der nicht klar damit kam, dass sich das Verhältnis seines Vereins zum Projekt nicht durch ein kommerzielles Mieter-Vermieter-Verhältnis beschreiben ließ, der sein Büro mit Videokamera sicherte und der sich Frauen gegenüber wie der letzte Assi benahm. Letztendlich lösten sich all diese Problem mit einem „Und Tschüß“, indem sich „unsere persönliche Stalinistin“ mit einem beleidigten Brief verabschiedete und dem „Verein zur Förderung junger Musiker“ gekündigt wurde. Punks suchten auch weiterhin das Gelände auf, wogegen an sich auch niemand etwas hatte. Leider fielen aber immer wieder Einzelpersonen durch aggressives Verhalten, Zerstörung oder das Tragen heidnisch-germanischer Kultsymbole auf, weshalb wir uns gezwungen sahen das eine oder andere Hausverbot zu erteilen und auch durchzusetzen. Die Kumpel der Betroffenen solidarisierten sich zumeist und blieben dem Haus ebenfalls fern, denn mit dem „Hippiehaus“ wollten sie ja eh nichts mehr zu tun haben. So zeigte sich von Anfang an, dass die Endkonsequenz von Konflikten zumeist die freiwillige oder unfreiwillige Trennung vom Projekt war, wobei letzteres ganz im Sinne der Konzeption geschah, die besagte:
„Es gibt für die Besucher des Projektes Reilstrasse 78 weder eine Altersbegrenzung, noch eine Zielgruppenorientierung im engeren Sinn. D.h. jede/r, der/die Interesse besitzt in einen Austausch auf kultureller, sozialer, politischer oder alltagsorientierter Ebene zu treten, ist eingeladen sich in diesem Projekt zu verwirklichen. Aus einem inneren Anspruch heraus werden dennoch Personen vom Projekt ausgeschlossen, die rassistisch, faschistisch oder sexistisch interagieren und den Gedanken der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit nicht mittragen.“ Nach einigen Jahren besuchen inzwischen doch wieder einige Punks die eine oder andere Veranstaltung, was wir begrüßen, da sich daraus auch kaum noch Konflikte ergeben und da wir Punk an sich auf gar keinen Fall ablehnen.
Ein stark einschneidendes Ereignis war der Kneipenumbau von der 1. Etage ins Erdgeschoss im April 2004. Vorausgegangen waren heftige Diskussionen, da man nach reichlich 2einhalb Jahren die ersten Stagnationserscheinungen wirklich nicht mehr ignorieren konnte. Inzwischen hatten weitere aktive Menschen, teils aus Enttäuschung und Resignation, teils aus privaten Gründen, das Projekt verlassen, so dass der eigentliche Kern, der alles am Leben erhielt, erheblich geschrumpft war. Es kristallisierten sich dabei drei Hauptprobleme heraus, über die aufgrund ihrer Wichtigkeit später noch einmal gesondert gesprochen wird. Zum einen war das der Widerspruch zwischen den aktiven organisierenden Leuten mit Anspruch und den nur konsumierenden, tlw. auf alles scheißenden Gästen. Weiterhin kam es immer mehr zu Konflikten zwischen den Leuten, die regelmäßig im Projekt anwesend waren und so auch ab und zu dort übernachteten und den Leuten die sich zwar regelmäßig aktiv einbrachten, aber nie im Haus schliefen und somit auch nicht an jeder spontanen Aktion oder Entscheidung beteiligt waren. Zum anderen stellte sich heraus, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Basisdemokratie und Konsensprinzip gab. So kam es, nachdem wir geprüft hatten ob wir uns das finanziell überhaupt leisten können, dazu, dass wir das Haus einen Monat für Veranstaltungen dicht machten, um uns noch einmal ausgiebig mit dem Woher, dem Wohin und dem Wie zu beschäftigen und auch um einige Veränderungen am Haus vorzunehmen (siehe flyer „kein april scherz“). Die Grundgefühle waren dabei: „Die Luft ist raus“ und „so kann´s nicht weitergehen, es muss sich etwas ändern“. Betrachtet man im Nachhinein was in besagtem Monat passiert ist, muss man leider feststellen, dass sich fast alle Energie und aller Veränderungswille auf den Umbau der Kneipe beschränkten. Über das Gesamtprojekt wurde inhaltlich nicht oder nur am Rande gesprochen, dafür beschäftigten sich stundenlange Plena mit den Fragen, ob überhaupt umgebaut wird, was verändert wird, was neu entstehen soll und wo der Kicker hinkommt. Die Diskussionskultur war wie schon so oft sehr schlecht und private Abneigungen wurden ungehindert auf das diskutierte Problem übertragen. UmbaugegnerInnen betonten die Unsinnigkeit eines Kneipenumbaus, wo sich doch der Raum in der 1. Etage bewährt hatte und meinten auch nicht zu Unrecht, dass gerade wichtigere Dinge anlägen, wie z.B. die politische Arbeit bzw. die innere Auseinandersetzung des Projektes mit seinen Ansprüchen. Bei den UmbaubefürworterInnen überwog eindeutig der Veränderungsdrang, der sich leider nur auf bauliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verbesserung der Organisationsstruktur bezog.
Der Umbau wurde dann schließlich nach wochenlangen sich im Kreise drehenden Diskussionen auch durchgeführt, indem ohne einen Konsensbeschluss des Plenums einfach begonnen wurde zu bauen. Das Ergebnis des Umbaus war folgendes: Der Kneipenraum wurde ins Erdgeschoss verlagert, was die Trennung von Kneipe und Konzertraum aufhob. Vorteil davon war, dass sich das Party- bzw. Konzertgeschehen nur noch an einem Punkt konzentrierte. Während die Leute früher für jedes Getränk erst lange Wege zurücklegen mussten und die Party oft in zwei Teile zerfiel, was gerade unangenehm ins Auge fiel, wenn nicht so viele Gäste anwesend waren, befand sich jetzt alles kompakt in einem Teil des Hauses. Ein weiterer Vorteil war, dass nun die gesamte Veranstaltung besser überblickt werden konnte. Es war wiederholt zu gewalttätigen Ausschreitungen und Zerstörungen gekommen, auch weil sich die Veranstaltungen auf zwei Etagen verteilten. War Mensch gerade oben, war unten die Bahn frei für sinnlose Zerstörungswut und umgekehrt. Jetzt hatten wir von der Bar aus den Eingang im Blick und konnten zudem noch steuern wer überhaupt in die nächste Etage konnte und wer nicht. Mit der Bar wurde auch das Getränkelager ins Erdgeschoss verlagert, was zu einer erheblichen Erleichterung geführt hat, da wir unsere Getränke aus finanziellen Gründen selbst einkaufen und transportieren. Die Getränkekästen mussten jetzt nur noch bis ins Erdgeschoss und nicht mehr in die 1. Etage getragen werden und alle die einmal bei so einer Ausladeaktion mitgemacht hatten, wussten sehr wohl zu schätzen, dass man nun nur noch 13 statt 40 Stufen mit jedem Kasten zurücklegen musste. Der Bandpennraum wurde aus dem Erdgeschoss nach oben verlagert, so dass die Bands jetzt, im Gegensatz zu vorher, einen ruhigen Rückzugsraum nutzen konnten. Der ehemalige große Kneipenraum wurde zu einem Multifunktionsraum in dem jetzt die Aktionstheatergruppe probte, verschiedene Selbstverteidigungsgruppen übten und Vorträge, Infoveranstaltungen und Lesungen stattfanden. Der Infoladen im Erdgeschoss musste der Kneipe weichen, verblieb aber im Erdgeschoss, so dass es weiterhin möglich war die Gäste zu erreichen. Zusätzlich entstand in der 1.Etage ein Archiv mit politischen Zeitschriften und Infomaterial, das von nun an politischen Gruppen als Treffpunkt und Arbeitsplatz zur Verfügung stand. Neben all diesen positiven gab es aber auch negative Auswirkungen. Aufgrund der vielen Dispute im Rahmen des Kneipenumbaus kam es zu einigen Zerwürfnissen, so dass wieder einmal Leute dem Projekt Lebe Wohl sagten oder sich Schritt für Schritt daraus zurückzogen. Weiterhin kam es zu dem für viele bis heute verwunderlichen Effekt, dass der wöchentliche Kneipenbetrieb nach der Umbaupause, an die sich dann sogleich die Sommerpause anschloss, nie wieder so richtig zum Laufen kam. Ob das nur an der langen Pause und an den inneren Zerwürfnissen aufgrund des Umbaus lag oder ob der neue Kneipenraum, der bis heute von einigen als kalt und uneinladend empfunden wird, schlicht nicht angenommen wurde, ist bis jetzt vielen unklar. Fakt ist aber, dass der gemütliche große Kneipenraum in der 1. Etage bis heute von vielen vermisst wird.
Den nächsten bedeutenden Bruch könnte man unter das Motto stellen: antideutsch oder nicht. Von Anfang an waren in das Projekt verschiedene politische Gruppen integriert. Einige, die auch bei der Entstehung des Projektes mitgewirkt hatten, arbeiteten in Gruppen mit, die sich selbst als antideutsch bezeichneten oder dieser politischen Ausrichtung sehr nahe standen, so dass der Konflikt zwischen antideutschen und antiimperialistischen Gruppen ins Projekt hineingetragen und auch dort ausgetragen wurde. Nun gab es zwar innerhalb der Reil78 kaum Personen des typischen antiimperialistischen Blockes, die sich aktiv eingebracht hätten, ganz im Gegenteil: die Mehrheit der nicht-antideutschen Personen hier im Haus würde sich bis heute als zwischen bzw. außerhalb der genannten Positionen stehend betrachten. Zwar begrüßten hier alle eine Initiative die sich gegen die deutschen Zustände richtet. Die provokant formulierten Thesen und Schlussfolgerungen, die die Referenten der von der Gruppe „no tears for krauts“ organisierten Veranstaltungen vortrugen, konnten dennoch von fast keiner der regelmäßig am Plenum teilnehmenden Personen geteilt werden. Es gab durchaus Zustimmung in Bezug auf die Analysen, dass es abzulehnende Entwicklungen wie Antisemitismus, Holocaustrelativierungen und Verspiesserung bis hin zur Verdummung innerhalb einer so genannten Linken, bestimmten politischen Bewegungen und diversen Subkulturen gab und gibt. Damit, dass die gesamte Linke einer „Blut und Boden“- Ideologie anhinge und dass Punk durchweg verspiessert, unpolitisch, deutsch oder antiamerikanisch sei (wobei sich stellvertretend auf das Fanzine plastic bomb bezogen wurde, das heutzutage kaum noch ein Punk liest), konnte niemand mehr mitgehen. Und dass Tierschutz aufgrund seiner Tradition reiner Faschismus sei, klang für viele so logisch, wie die These, die man im Umkehrschluss aufstellen könnte: dass Antideutsche, aufgrund ihrer Herkunft aus der von ihnen kritisierten Linken, durchweg antisemitisch wären. Die Diskussionen um die Veranstaltungen der Gruppe „no tears for krauts“ gipfelten schließlich darin, dass von der Gruppe verlangt wurde den Inhalt ihrer Veranstaltungen beim Plenum vorzustellen, damit dieses entscheiden könne ob eine Veranstaltung zu diesem Thema in den Räumen des Projektes erwünscht ist oder nicht. Weiterhin entschied das Plenum, dass es nicht weiter gewillt ist, der Gruppe „no tears for krauts“ einen Anteil am so genannten Antifacent zu gewähren (näheres zum Antifacent im Abschnitt „Politik“). Somit fand das erste Mal in der Geschichte des Projektes eine Zensur statt, die nichts mehr mit politischem Meinungsaustausch zu tun hatte und deshalb auch letztendlich zum Fernbleiben der Gruppe „no tears for krauts“ führte.
Doch nicht nur eigene Konflikte wurden im Projekt ausgetragen. Der Konflikt zwischen antideutscher und antiimperialistischer Fraktion eskalierte völlig bei einer Party, die die Gruppe „AgitPop“ aus Anlass des alljährlichen Antifa-Fußballturniers organisierte. Das Anliegen dieser Gruppe war es Kulturveranstaltungen zu organisieren um auf diesen zu agitieren. Das Thema ihrer Flugblätter war diesmal der Fußballclub Roter Stern Halle, der sich u.a. Kritik in Bezug auf die Nichtumsetzung seiner Satzung und homophobe und rassistische Äußerungen seiner Fans gefallen lassen musste. Fans des Roten Sterns, fühlten sich provoziert und es kam zu lauten verbalen Auseinandersetzungen zwischen AgitPop und Personen aus dem G.i.G-Umfeld, die kurz vor der Eskalation standen. AgitPop fühlte sich bedroht, erschien zum nächsten Plenum und forderte eine konsequente Stellungnahme von der Reilstraße. Im Laufe der mehrwöchigen Diskussionen kam es zu einigen Hausverboten für Leute aus dem G.i.G.-Roter-Stern-Umfeld. Eine Folge davon war, dass Leute aus diesen Zusammenhängen, die die Reil78 vorher z.B. bei Jahresfesten noch unterstützt hatten, ihre Unterstützung gegenüber der Reilstraße völlig einstellten und deren Veranstaltungen boykottierten. Nachdem der Konflikt einigermaßen abgeflaut war, wurden die Hausverbote wieder aufgehoben, was zu einer Vergrößerung der Distanz zwischen antideutschen Gruppierungen und dem Projekt führte, da diese nun die unterschiedliche Konsequenz gegenüber Leuten, die man persönlich kennt, und Leuten, die einem egal sind, kritisierte. Der Vorgang des sich Verabschiedens fand noch des Öfteren seine Fortsetzung, nicht nur aus Enttäuschung oder Resignation. Bei der/dem Einen war Zeitmangel der Grund bei der/dem Anderen schlicht ein Umzug, so dass auch so manches Auf Wiedersehen zu hören war. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass im Projekt lange die zugezogenen Personen, die sich in Halle z.B. aus Gründen des Studiums aufhielten, gegenüber den gebürtigen Hallensern überwogen. Das beständige Dazukommen und Verlassen von Personen brachte zwar immer wieder frischen Wind mit, führte aber im Umkehrschluss auch immer wieder zum Wegbrechen von aktiven Personen, die nach Beendigung ihres Studiums woanders hinzogen. Fakt ist dabei, dass die Anzahl derer, die sich aktiv am Projekt beteiligten, immer weiter sank.
Bei allen geführten Auseinandersetzungen wiederholte sich eine Konfliktkonstellation besonders häufig, die die oben erwähnten Konflikte noch verstärkte, nämlich die von „innen“ und „außen“. Meist standen Personen, die sich sehr regelmäßig im Haus aufhielten und auch des Öfteren dort schliefen, Personen gegenüber, die sich zwar regelmäßig ins Projekt einbrachten, aber eben nicht dort schliefen und somit auch nicht ganz so häufig im Projekt anwesend waren. Letztere konnten selten an notwendigen spontanen Entscheidungen oder Aktionen teilhaben und standen so oft vor vollendeten Tatsachen. Erstere waren fast immer im Haus präsent und hatten somit auch gezwungenermaßen mehr Verantwortung zu übernehmen. Sie mussten einspringen, wenn nicht genug HelferInnen bei Veranstaltungen da waren, sie mussten Konfliktsituationen klären und Leute, die sich nicht benehmen konnten rauswerfen, sie machten all die Dinge, die auf dem Plenum zu klären vergessen wurden und sie mussten anpacken, wenn gerade mal wieder was kaputtgegangen war (hallo Wasserrohrbruch) egal ob sie gerade Lust oder Zeit hatten. Klar ist auch, dass es einfacher ist aus dem Bett die Treppe runter zum Plenum oder zum Arbeitseinsatz zu fallen, als 2-3 km mit dem Rad bei Wind und Wetter zur Reilstraße zu fahren. Das alles wäre kein Problem gewesen, wenn nicht die öfter Anwesenden die Wichtigkeit ihrer Präsenz überbetont hätten, nach dem Motto: „Wer viel macht, entscheidet auch viel und wie was gemacht wird.“ Dass Leute, die auch ab und an im Projekt schlafen Privilegien genießen, indem sie z.B. kostenlos alle Veranstaltungen besuchen dürfen, unabhängig davon ob sie an deren Organisation beteiligt sind, wurde von den weniger Anwesenden nie verstanden. Sie fühlten sich übergangen oder sogar ausgeschlossen, was auch hier wieder zum Verlassen des Projektes geführt hat. Dass diese Vorgänge auch Auswirkungen auf die Entscheidungsstruktur hatten, liegt auf der Hand.
ORGANISATIONS- UND ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR
Wie es sein sollte und wie es wirklich aussieht
Wie die Organisation des Projektes aussehen sollte, beschreibt am besten das folgende Zitat aus unserer Konzeption:
“Das Projekt ist selbstorganisiert und selbstverwaltet. Es entsteht in Basisarbeit, d.h. von Anfang an in Gemeinschaft mit allen Interessierten und Suchenden. Diese Konzeption versteht sich als Entwurf, der durch die Bedürfnisse der Besucher bestimmt wird und somit Modifizierungen unterliegt. Es soll ein dynamisches, gemeinschaftsorientiertes und dennoch individuelles Projekt sein, das gemeinnützig tätig ist. Im Vordergrund aller Aktivitäten steht die Selbstbeteiligung jedes Einzelnen.“
Der Idealzustand sieht dabei so aus, dass alle Gruppen und Personen die das Projekt nutzen, sich selbstverständlich an dessen Aufrechterhaltung beteiligen. Das Organisations- und Entscheidungsinstrument sollte das Plenum sein, auf dem per Konsensprinzip entschieden werden soll. Einmal in der Woche (Montags, 19.30 Uhr) treffen sich alle Menschen/Gruppen um über alle Belange des Projektes zu sprechen. Das heißt sie organisieren, verwalten, beraten und entscheiden gemeinsam. Eine wichtige Voraussetzung für basisdemokratische Entscheidungen ist dabei die Anwesenheit, so dass von allen am Projekt beteiligten Gruppen, egal welcher Art, zumindest ein/e Vertreter/in anwesend sein sollte.
Wird das mit der Realität verglichen, muss festgestellt werden, dass das Projekt immer noch selbstorganisiert und selbstverwaltet arbeitet. Alle Interessierten versuchen die anstehenden Probleme gemeinschaftlich zu lösen. Aufgrund der bereits erwähnten vielen Brüche die es gab, vor allem auch wegen dem beschriebenen Problem zwischen „innen“ und „außen“, beschränkt sich der Kreis der Interessierten aber inzwischen fast ausschließlich auf diejenigen, die sich sehr regelmäßig im Haus aufhalten und auch des Öfteren dort schlafen. Gruppen und Personen die das Projekt nutzen, beteiligen sich kaum bis gar nicht an dessen Aufrechterhaltung. So entstand im Laufe der Jahre die paradoxe Situation, dass diejenigen, die sich noch am Plenum beteiligen zu einer Art Dienstleister mutiert sind für diejenigen, die in den Räumen der Reil78 ihre Projekte verwirklichen. Das heißt im Klartext: die Leute, die sich sehr regelmäßig im Haus aufhalten um auch ab und an dort zu schlafen, erhalten das Projekt aufrecht, indem sie den Kontakt zu den entsprechenden Behörden halten, Tresen machen, das Haus sauber und instand halten, also allgemein alles organisatorische tun, damit das Projekt funktionieren kann. Alle anderen Gruppen (politische Gruppen, Antifa, Sportgruppen, Theatergruppe und Partyveranstalter) nutzen zwar die Räumlichkeiten kostenlos, beteiligen sich aber kaum an der Projektstruktur, was dann im Klartext bedeutet, dass sie im Gesamtprojekt weder mitarbeiten, noch mitbestimmen. Besonders krass gestaltet sich das Verhältnis zu den ProberaumnutzerInnen, die offenbar glauben von jeglicher Teilnahme an den notwendigen Projektaktivitäten befreit zu sein, weil sie für die Nutzung ihres Proberaums Geld spenden. Vielmals weiß man gar nicht so recht wer da im Keller so ein- und ausgeht und einige der ProberInnen sind sich nach eigenen Aussagen nicht mal bewusst was das denn eigentlich für ein Projekt ist, in dem sie sich da gerade aufhalten und was in den anderen Etagen so alles läuft. Ein weiteres Problem bei der Entscheidungsfindung ist, dass auch Entscheidungen spontan gefällt werden müssen. Oft bleibt keine Zeit bis zum nächsten Montag zu warten, so dass Einzelpersonen nach eigenem Ermessen entscheiden. Beim nächsten Plenum ist dann manchmal die Überraschung groß, da sich aber diese Vorgehensweise nicht vermeiden lässt, wurde sie bisher von allen toleriert. Anders liegt der Fall allerdings, wenn die Entscheidung Zeit hat, aber trotzdem im Laufe einer Diskussion von mehreren Einzelpersonen Entscheidungen getroffen werden, über die das Plenum im besten Falle informiert wird. Leider kommt das dann doch ab und zu einmal vor, was wohl auch an der inzwischen sehr überschaubaren Anzahl an EntscheidungsträgerInnen liegt. Auch Leute von außerhalb gehen mit ihren Problemen nicht immer auf´s Plenum, sondern wenden sich an Personen, die in ihren Augen im Projekt etwas zu sagen haben. Damit projizieren sie eine Hierarchie ins Projekt hinein, die gar nicht existiert bzw. nicht existieren sollte. Die Diskussionskultur auf dem Plenum lässt oft sehr zu wünschen übrig. Privatkonflikte werden auf diskutierte Probleme übertragen, Mensch lässt sich nicht ausreden oder verlässt mitten in der Diskussion eingeschnappt den Raum und manche/r denkt: wer am lautesten spricht, hat recht. Seltsamerweise nähert sich die Diskussionskultur, wenn wirklich wichtige und existenzielle Dinge anliegen, dann doch wieder dem angestrebten Ideal. Im anderen Fall hat sich an der Plenumskultur seit Bestehen des Projektes nicht viel geändert. Wieder super ausgedrückt im Heft „Hurra wir leben noch – 1 Jahr Reilstraße 78“: „Weil wir keine Chefs wollen, alles Engagement ehrenamtlich ist und wir uns als offene Initiative betrachten, ist immer montags im Gastraum Plenum. Vor allem dient es unserer Entscheidungsfindung, indem, anders als beim parlamentarischen Demokratismus, jeder Einzelne ein Problem aufwerfen und jeder dazu seine Meinung sagen kann. Manchmal muss (soll!) auch diskutiert (oder gestritten) werden, um auf ein Ergebnis zu kommen, mit dem alle einverstanden sind. Auf dem Plenum werden auch Informationen ausgetauscht und Anfragen gestellt und beantwortet. Nicht zuletzt muss es einen festen Termin geben, an dem alle Engagierten, Interessierten und Freiwilligen zusammentreffen, um die anliegenden Sachzwänge, Arbeiten und Termine zu bewältigen. Und für Außenstehende soll es der Ort sein, mit uns in Kontakt zu treten. Ein Plenum ist entspannt, sachlich und konstruktiv. Soweit der Idealfall.
Mal sind viele beim Plenum und mal sind es wenige. Das Plenum beginnt, wenn jemand die Stimme hebt und den Beginn des Plenums verkündet. Was dann folgt, ist unterschiedlich. Eine Tagesordnung, bei der jeder Anwesende zu Wort kommen kann, führt dann durch den Abend, der je nachdem kurz oder lang wird. Das Plenum endet, wenn keiner mehr da ist oder alle Gespräche zu stark in den informellen Teil abgeglitten sind. Dass Basisdemokratie einfach ist, hat nie jemand ernsthaft behauptet, und dass man auf diese Weise Haus und Projekte besser verwalten kann, auch nicht. Wir machen es trotzdem, auch wenn es teilweise langwidrig ist und bei Außenstehenden vielleicht nicht den verlockendsten Eindruck hinterlässt. Manchmal ist die Diskussionskultur zu krass und oft sind wir eigentlich zu wenige Leute für zu viele Dinge, die es zu tun gibt. Mancher hat diesen Termin nicht immer frei und mancher hat weder Anliegen noch Diskussionsbedarf. Da ist der Frust manchmal größer als das Engagement und die Auseinandersetzung gleich null. Aber nicht nur. Denn alles was in unserem Haus in einem Jahr entstand, entstand ja auf Grundlage des Plenums. Es ist die einzige zumindest grob funktionierende Möglichkeit unseren Informations-, Planungs- und Diskussionsbedarf miteinander zu koordinieren, auch wenn wir der Struktur letzte Weisheit für uns noch nicht gefunden haben. Jedoch wollen wir keine Hierarchien, keine Bürokratie und keine Mehrheiten durch Überstimmung der Minderheit. Und was wir gemeinsam wollen, können wir nur gemeinsam erreichen.“
Nun noch ein paar Worte zum Entscheidungsprinzip. Das Wort Konsens bringt immer wieder bei Beteiligten die Vorstellung hervor, dass sich bei einer Entscheidung alle Anwesenden in jedem Punkt einig sein müssen. Das ist definitiv nicht so. Im Verlaufe der Diskussion sollte in regelmäßigen Abständen ein Stimmungsbild gemacht werden. Das heißt, alle äußern sich kurz darüber, worin ihre Einwände oder Bedenken bei der anstehenden Entscheidung liegen. So ist einerseits abzusehen, in welchen Punkten überhaupt noch Diskussionsbedarf und in welchen bereits Übereinstimmung besteht. Andererseits ist klar ersichtlich ob in diesem Moment bereits eine Konsens-Entscheidung möglich ist oder nicht. Kommt es zur Abstimmung, gibt es verschiedene Varianten der Zustimmung und der Ablehnung. Mensch kann dem Beschluss ohne Einschränkung zustimmen, Mensch kann aber auch zustimmen und gleichzeitig auch Bedenken äußern. Der Beschluss kann abgelehnt werden, aber, da das Thema nicht als so wichtig empfunden wird und sich der ablehnende Teil des Plenums stark in der Minderheit befindet und sonst alles blockieren würde, trotzdem geäußert werden, dass auch der gegenteilige Beschluss mitgetragen wird. Und es kann abgelehnt und ein Veto eingelegt werden, das heißt, jemand ist konsequent gegen den Beschluss, kann diesen überhaupt nicht mit sich vereinbaren und verhindert somit einen Konsensbeschluss.
Die Vor- und Nachteile dieses Entscheidungsprinzips liegen auf der Hand. Einerseits werden nie Entscheidungen einer Mehrheit über eine Minderheit getroffen, nach dem Motto: „Wer die meisten Freunde mitbringt, hat gewonnen“ (ja, auch das wurde schon versucht). Andererseits kann eine Einzelperson durch ein Veto eine Entscheidung verhindern, so dass sich die Diskussion wochenlang im Kreis dreht und anstehende Probleme nicht gelöst werden können. Dies führte entweder zum Übergehen des Plenums, indem die Mehrheit den durch Veto verhinderten Beschluss einfach umsetzt und so vollendete Tatsachen schafft (wie beim Kneipenumbau geschehen) oder zum Gehen der Personen die ihre Interessen auf dem Plenum nicht durchsetzen können. Meist geschah beides. Eine weitere nervige Nebenwirkung dieses Entscheidungsprinzips war, dass aufgrund der Offenheit des Plenums auch ab und zu Personen, die sich zufällig das erste Mal in die Reilstraße verirrten, intensiv mitdiskutierten, die Entscheidungsfindung extrem erschwerten oder sogar verhinderten, um danach nie wieder aufzutauchen. Auch folgender im Konzept verankerte Punkt spielt bei diesem Problem eine große Rolle: “Es soll ein offenes, dynamisches Projekt sein, das durch die einzelnen Akteure immer wieder neu bestimmt und neu definiert wird.“ Zwar ist es extrem vorteilhaft, dass ein Projekt nicht starr in seiner anfangs vorgegebenen Lage verbleibt, sondern sich Gegebenheiten anpasst und von den Leuten geformt wird, die gerade das Projekt darstellen. Andererseits ist es auch extrem anstrengend, wenn immer wieder bereits durchdiskutierte Probleme neu aufgeworfen werden, bereits getroffene Entscheidungen und erarbeitete Positionen und Vorgehensweisen in Frage gestellt oder ignoriert werden, woraufhin immer wieder vom Urschleim an begonnen werden muss zu diskutieren.
BESETZTES HAUS versus KUBULTUBUREBELL e.V.
Wie bereits erwähnt, war eine der grundlegendsten Entscheidungen für das Projekt jene, sich überhaupt mit der Stadt einzulassen und somit das Projekt auf offizielle und geregelte Beine zu stellen. Die Konsequenzen, die diese Entscheidung nach sich ziehen würde, waren lange niemandem bewusst. Am Anfang überwog die Freude endlich einen Raum frei und fast ohne Zwänge nutzen zu können. Die Aktivitäten konnten sich darauf konzentrieren das Haus in Schuss zu bringen und es mit Leben zu füllen. Der Kontakt mit Behörden, Verwaltungen u.ä. beschränkte sich darauf mit der Stadt zu verhandeln, den Nutzungsvertrag zu unterzeichnen und für das Projekt lebensnotwendige Anmeldungen von Strom, Wasser, Müll etc. zu tätigen. Ansonsten konnte auf dem Gelände fast alles getan und gelassen werden und zwar auf unsere eigene Art. Der Zustand ähnelte somit, abgesehen davon, dass Miete an die Stadt gezahlt werden musste, dem eines besetzten Hauses und es wurde frohlockt, weil sich die Bedenken der VerhandlungsgegnerInnen nicht bestätigt hatten. Dies änderte sich allerdings, als diverse Behörden und Institutionen an unsere Tür klopften, mit denen niemand gerechnet hatte, die niemand hier haben wollte und mit denen sich auch nie jemand wirklich auseinandersetzen wollte. Als erstes kam der Jugendschutz, der sich in Anwesenheit von Polizeibeamten auch Zutritt zur oberen Etage beschaffen wollte, was erfolgreich verhindert wurde, weil der dort auch nichts zu suchen hat. Nachdem wir ein aktuelleres Jugendschutzgesetz aufgehängt hatten, war dieses Problem aber schnell geklärt. Als nächstes meldete sich die GEMA und zwar genau im April 2004, im Monat des Kneipenumbaus. Diese gab uns drei Wochen Zeit alle gelaufenen Veranstaltungen der letzten drei Jahre rückwirkend anzumelden und nachzuweisen. Das hieß, für jedes Konzert und jede Party die in dieser Zeit gelaufen waren, mussten für jede Band und jeden DJ Musikfolgen nachgereicht werden. Für die Bands, für die das im Nachhinein nicht mehr möglich war und für die, die in irgendeiner Weise bei der GEMA gemeldet waren, mussten wir insgesamt ca. 1500 Euro GEMA-Gebühren nachzahlen. Ab jetzt musste jede Veranstaltung vorher bei der GEMA angemeldet und im Nachhinein per Musikfolgen nachgewiesen werden. Aus prinzipiellen Gründen, also aus dem antikommerziellen Charakter heraus, und damit wir um die Zahlung von Geld herumkamen, wurde vom Plenum festgelegt, dass wir keine Veranstaltungen mehr mit GEMA-Bands machen. Sollte dies doch einmal vorkommen, mussten die jeweiligen Veranstalter finanziell persönlich dafür gerade stehen. Ab jetzt musste sich eine Person darum kümmern den Kontakt mit der GEMA aufrechtzuerhalten und dafür sorgen, dass die Musikfolgen ausgefüllt werden, was meist mehr schlecht als recht getan wurde, so dass des Öfteren auch Geld gezahlt werden musste, weil die Musikfolgen unleserlich waren. Im Moment beläuft sich dieser Betrag auf ca. 62 Euro pro Veranstaltung. Als nächstes kam das Finanzamt und verlangte rückwirkend die Umsatzsteuererklärungen für jedes Jahr, später auch noch Erklärungen zur Körperschaftssteuer und was auch immer noch für komisches Zeug. Auch damit musste sich wieder jemand befassen. Eine für diese Zwecke geeignete Buchführung gab es nicht (warum auch), Ahnung von dem Ganzen hatte auch niemand, so dass die Sache schließlich diversen Steuerberatungsbüros überlassen wurde. Dass das Geld gekostet hat, ist klar und addiert man dazu noch die Steuern die für jedes Jahr fällig waren, kommt man auf die stattliche Summe von 800 Euro jährlich die dafür drauf gingen.
Einen Mega-Behördenansturm gab es dann im Februar 2006. Anlass war eine Beschwerde wegen Schwarzarbeit beim Gewerbeaufsichtsamt, die wohl auf Grund einer Veranstaltung in der Chaiselounge eingereicht wurde. Es kündigten sich zu einer Begehung an:
1.Der Fachbereich für Brand-, Katastrophenschutz und Rettungsdienst um eine Brandsicherheitsschau durchzuführen.
2.Der Fachbereich Gesundheit / Veterinärwesen um eine Hygienekontrolle durchzuführen.
3.Der Fachbereich Allgemeine Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit / Ressort I / Team Gewerbe um unseren Gaststättenbetrieb (Bar) zu überprüfen.
4.ein eventuelles Erscheinen von Verbraucherschutz und Bauordnungsamt wurde sich vorbehalten.
Kontrolliert werden sollten vor allem die Abfallentsorgung, Geschirr und Gläser, sanitäre Anlagen, die Begehbarkeit bzw. das Vorhandensein von ausreichend Notausgängen, die (kaum vorhandenen) Feuerlöscher, die Preislisten, die Kassenbücher, der Jahresabschluss und noch vieles mehr. Wer das Projekt ein bisschen kennt, weiß, was das bedeutete. Der Termin wurde zunächst verschoben, um noch handeln zu können. In der folgenden Zeit wurde, zum Glück unter Mitwirkung vieler Außenstehender, auf Hochtouren daran gearbeitet, die Folgen der Begehung so gering wie möglich zu halten. Die Küche wurde entkeimt, Kühlschränke und Lebensmittel entfernt, das Haus wurde geputzt wie noch nie, die Beleuchtung in allen Räumen wurde instandgesetzt und die oberste Etage wurde komplett verwandelt, indem auch dort Projekträume installiert wurden. Nach diesem Stress wurden ganz viele Leute für das Datum der Begehung eingeladen, damit wir auch einen guten Eindruck machten. So waren zur Begehung alle Räume voller Leute und aus jedem Proberaum tönte die Begleitmusik zur Kontrolle. Die Ergebnisse der Begehung, der später noch einige Nachkontrollen folgten waren folgende: Die Hygiene hatte bis auf ein paar Kleinigkeiten erstaunlicherweise keine Einwände (hallo Herrentoilette?). Auch das Gewerbeaufsichtsamt war mit den Gegebenheiten und unseren Antworten zufrieden. Ein Problem, dass sich in die Länge ziehen sollte, war allerdings der Brandschutz. Alle ortsveränderlichen elektrischen Geräte sollten fachmännisch überprüft und eine Fluchtwegbeschilderung angebracht werden. Der Einbau von Zwischentüren wurde gefordert, außerdem die Schaffung diverser zweiter Fluchtwege und das Anbringen einer ganzen Menge TÜV-geprüfter Feuerlöscher. Die Erfüllung all dieser Auflagen hat sich über Monate hingezogen, unzählige Arbeitsstunden gekostet und eine nicht mehr nachvollziehbare Menge Geld verschlungen. Es wurden Mauerdurchbrüche gemacht, Türen zugemauert bzw. eingesetzt, Rettungsleitern geschweißt, Fenster von Gittern befreit, Feuerlöscher gekauft und angebracht, usw., usw. …
Das alles bedeutete eine Menge Stress und kostete enorm viel Kraft, die an den Stellen, um die es im Projekt eigentlich ging, nämlich bei der sozialen, kulturellen und politischen Arbeit, eindeutig fehlte. All das macht deutlich, dass die Situation des Projektes absolut nichts mehr mit dem eines besetzten Hauses zu tun hat. So ähnlich sich die Ansprüche auch sein mögen: durch die Zusammenarbeit mit der Stadt und durch die dadurch notwendige Gründung eines Vereins, der als juristische Person für alles haftet, stießen diese Ansprüche immer wieder an ihre Grenzen. Der Traum von absoluter Freiheit war somit ausgeträumt.
GELD ODER LEBEN
Eng verbunden mit dieser Behördeninvasion war von Anfang an Geld. Angefangen damit, dass wir jeden Monat eine Miete von inzwischen 596,50 Euro zahlen müssen, war jeder folgende Zusammenprall mit Behörden, Institutionen, etc. mit der Zahlung von Geld verbunden. Auch die laufenden Nebenkosten sind nicht zu verachten. So betrugen zum Beispiel im Jahr 2006 die monatlichen Nebenkosten für Miete, Strom, Wasser, Kohlen, Büromaterial, Müll und Steuern ca. 1800 Euro! Dazu kamen noch die Kosten für Telefon, Gebäudeinstandhaltung, uva.. Die einzigen Einnahmen um diese Kosten zu begleichen, sind Spenden für die Nutzung von Räumlichkeiten und die Einnahmen an der Bar. Eine Förderung von staatlicher Seite bekamen wir nur einmal am Anfang, als uns Civitas eine Konzertanlage, Computer, Drucker, Fax, Beamer, 3 Monatsmieten, 2 Kameras und Matratzen für den Sportraum bescherte. Seitdem finanziert sich das Projekt komplett selbst, was nur möglich ist, weil hier alle ehrenamtlich arbeiten. Dennoch stand das Projekt des Öfteren vor großen finanziellen Schwierigkeiten. Wie diese gemeistert werden konnten, bleibt einigen bis heute unverständlich. Meistens wurden große Geldprobleme aber durch Benefizveranstaltungen, wie das Benefiz für den Kicker oder das Benefiz für eine neue Musikanlage, gelöst. Vor dem größten finanziellen Problem standen wir 2006, zeitgleich mit den bereits erwähnten Behördenbegehungen, als wir 2000 Euro für Strom und 2200 Euro für Wasser nachzahlen mussten und zusätzlich rund 800 Euro für Steuern. Auch dieses Problem wurde mit Hilfe von Benefizveranstaltungen gelöst, wobei wir recht lange daran zu knabbern hatten. Aktuell stehen wir vielleicht vor einem neuen riesen Desaster, denn es gibt eine Forderung in Höhe von 4329 Euro, die uns aufgrund einer angeblichen Urheberrechtsverletzung in Rechnung gestellt wird. Wie die Sache ausgeht, ist zur Zeit noch unklar. Klar ist aber, dass die finanzielle Situation durchaus auch besser sein könnte. Wenn durch mangelnde Zahlungsmoral der NutzerInnen von Projekt-, Schlaf- und Proberäumen zeitweise Außenstände von 5000 Euro auflaufen und auf der (nach Plenumsbeschluss nicht existierenden) Anschreibeliste rund 800 Euro offen sind, ist es logisch dass das Projekt im Ernstfall in finanzielle Engpässe kommt.
POLITIK
Eine wesentliche Ausrichtung des Projektes war die politische Arbeit. So war die Vielfalt an politischen Gruppen im Haus sehr groß. Angefangen bei der Mobilen Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt, über das Büro des Vereins Freedom & Equal Rights Voice, den Infoladen bis hin zu verschiedenen antifaschistischen Gruppen, lebte das Projekt von und mit Politik. Regelmäßig fanden Vorträge, Seminare, Diskussions- und Mobilisierungsveranstaltungen zu den verschiedensten Themen statt. Um all jene Gruppen zu unterstützen, die finanziell auf sich allein gestellt waren, wurde ein sogenannter Antifacent eingeführt. Die Getränkepreise wurden leicht angehoben, die dadurch entstandenen Mehreinnahmen wurden auf die verschiedenen politischen Gruppen aufgeteilt. Nazis und andere RassistInnen, SexistInnen und AntisemitInnen hatten auf dem Gelände nichts verloren. Mitmenschen ohne deutschen Pass waren regelmäßig präsent, hauptsächlich wegen der Mobilen Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt, teilweise aber auch aufgrund privater Kontakte.
Wer sich das Projekt heute ansieht, muss leider feststellen, dass von all dem nicht viel geblieben ist. Die „Mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt“ hat aus logistischen Gründen das Projekt verlassen, der Verein „Freedom & Equal Rights Voice“ und die „alte“ Antifa haben sich in Wohlgefallen aufgelöst und die Gruppe „no tears for krauts“ hat sich aus bereits genannten Gründen aus dem Projekt zurückgezogen. Vorträge und andere politische Veranstaltungen finden schon seit Jahren nicht mehr statt. Mitmenschen ohne deutschen Pass verirren sich nur noch selten auf das Gelände. Meist beschränkt sich das auf wenige private Kontakte oder das Anbieten von Übernachtungsmöglichkeiten für mehr oder weniger in Not geratene Mitmenschen Der Antifacent wurde umgewandelt in einen monatlichen Festbetrag von 100 Euro der zurückgelegt wurde, so dass sich ein beachtlicher Betrag angesammelt hatte. Dieser sollte für einzelne, vom Plenum „genehmigte“, politische Aktivitäten genutzt werden. Da dieses Geld aber leider bei der Regelung der erwähnten finanziellen Probleme drauf ging, muss der Betrag als fiktiv und nicht existent betrachtet werden. Bis auf den alljährlichen Geburtstagsumzug gab es fast keine Öffentlichkeitsarbeit. Meist erfolgte diese aber auch schon früher nur auf Druck von außen. So wurde in die Öffentlichkeit gegangen, als in der Anfangszeit das Projekt durch Anträge der CDU im Stadtrat oder durch aggressive Wahlwerbung der Schill-Partei in der Existenz bedroht war. Weiterhin, als nach dem Brandanschlag auf unser Haus spontan 200 Leute auf die Straße gingen. Bei diesen Aktionen und dem Heft zum einjährigen Bestehen blieb es dann aber auch. Eine Transparenz des Projektes gab es somit nicht.
Positiv zu erwähnen wäre die Junge Antifa, die ihre Arbeit in den Räumen des Projektes aufgenommen und Infoladen und Archiv übernommen hat, womit die politische Präsenz auf kulturellen Veranstaltungen wieder gewährleistet ist. Dass RassistInnen, SexistInnen und AntisemitInnen auch weiterhin nichts auf dem Gelände zu suchen haben, ist selbstverständlich. So wurden auch der stadtbekannte Nazi Sven Liebig und seine Konsorten, die provozierender Weise eine unserer Veranstaltungen besuchen wollten, souverän vom Grundstück begleitet. Werden außerdem die im Konzept formulierten Ansprüche betrachtet, ist schon die alleinige Existenz eines solchen Freiraums politisch. Deshalb gilt auch weiterhin: Reil78 – mehr als nur Party!
KULTUR
Der kulturelle Bereich ist einer der wenigen, der annähernd so funktioniert wie er sollte, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass das Projekt von Veranstaltungen finanziell abhängig ist. So finden nach wie vor jede Menge Partys und Konzerte in unseren Räumen statt, die mal mehr oder weniger gut besucht sind. Knackpunkte in der Diskussion sind dabei immer wieder die Fragen: „Wo fängt eigentlich Kommerz an?“ und „Wer ist für die Durchführung der Veranstaltungen verantwortlich?“.
Der Anspruch war, Veranstaltungen selbst anzubieten, anderen die Möglichkeit zu bieten dies auch zu tun und dabei darauf zu achten, dass niemand aufgrund überhöhter Preise (wie allgemein üblich) ausgeschlossen bleibt. Dies setzt voraus, dass die Veranstaltungen einen unkommerziellen Charakter tragen, was heißt, dass alle, die am Projekt beteiligt sind, ehrenamtlich arbeiten und dass nicht mehr Gewinn entsteht, als zur Erhaltung des Projektes und zur Durchführung der jeweiligen Veranstaltung notwendig ist. Die KünstlerInnen erhalten eine Aufwandsentschädigung in Form von Fahrtkosten, Getränken, Essen und Schlafplätzen. Alle, die an der Durchführung der Veranstaltung beteiligt sind, bezahlen logischerweise keinen Eintritt und bekommen vergünstigt Getränke. Nun gibt es unterschiedliche Vorstellungen davon, was unkommerziell ist. Bei den einen fängt Kommerz an, wenn eine Band z.B. bei der GEMA registriert ist, bei den nächsten ist die Grenze erreicht, wenn eine Band eine Gage fordert und somit darauf scheißt, ob das Geld am Einlass überhaupt reinkommt und was das für das Projekt heißt, wenn es eben nicht reinkommt. Manche haben auch keinen Bock darauf kommerzielle Werbung auf den Plakate zu sehen. Ist der kommerzielle Charakter des Projektes eine prinzipielle Frage oder auf den Erhalt des Projektes bezogen? Veranstaltungen, die aus dem Interesse der privaten Gewinnerzielung heraus durchgeführt werden, haben wir stets abgelehnt. Aber wie ist das z.B. in dem Fall, wenn ein/e Veranstalter/in z.B. ein Konzert mit einer Band organisiert, die Gage fordert, aber die finanziellen Risiken selbst trägt? Und wie ist das, wenn ein Konzert mit einer Band organisiert wird, die von Musik lebt und bei der GEMA registriert ist, die aber schlicht für die Einlasskasse spielt, wobei der Eintrittspreis nicht den vom Plenum festgesetzten Höchstpreis überschreitet und der/die Veranstalter/in die GEMA-Gebühren selbst trägt? Wollen wir überhaupt die Aneignung von Allgemeingut (in diesem Falle von Musik), durch Geldzahlungen an die GEMA unterstützen? Zu all diesen Fragen konnte bisher kein Konsens gefunden werden. Bei der Mehrzahl der Veranstaltungen wird aber darauf geachtet, dass die Bands nicht bei der GEMA registriert sind und diese gegen die Einlasskasse spielen, wobei es schon einige Male vorgekommen ist, dass uns Bands angelogen haben und im Nachhinein dann doch die GEMA-Rechnung ins Haus geflattert kam, wie z.B. bei der „super korrekten Punklegende“ millions of dead cops (M.D.C.). Ein weiteres Problem liegt darin, dass das Spektrum an Bands, die sich auf diese Bedingungen einlassen nicht sehr groß ist, so dass sich die Veranstaltungen hauptsächlich auf den Punk/Hardcore-Bereich konzentrieren, was natürlich auch inhaltlich-politische Ursachen hat. Bands anderer Musikgenre, wie Rock-, Pop- oder HipHop-Bands, die einerseits inhaltlich den Ansprüchen des Projektes genügen und sich andererseits auf die erwähnten Bedingungen einlassen, sind leider nur sehr selten zu finden, was die Vielseitigkeit und Attraktivität der Veranstaltungen natürlich nicht fördert. Aus diesem Grund schauen sich einige dann doch lieber auch mal bei GEMA-Bands um. Bei der Durchführung von Veranstaltungen kommt es immer wieder zu personellen Problemen, wobei die Frage aufgeworfen wurde, inwieweit jede einzelne am Plenum teilnehmende Person für die Durchführung der Veranstaltung verantwortlich ist. Bei Fremdveranstaltungen, also wenn Leute, die sich sonst nicht mit in das Projekt einbringen, einfach die Räume nutzen um ihre Veranstaltungen durchzuführen, gibt es klare Regelungen, die ihr in diesem Heft nachlesen könnt. Wobei dann doch ab und zu die Frage auftaucht, wo eigentlich die Grenzen zwischen einer Haus- und einer Fremdveranstaltung liegen. Wer gehört eigentlich zum Projekt dazu und wer nicht, wo doch alle, die auch nur ein bisschen am Projekt mitarbeiten ein Teil davon sind und wo doch jede auch noch so kleine Veranstaltung auch das Gesamtprojekt repräsentiert?
Im Prinzip dient jede Veranstaltung aufgrund der Geldeinnahmen dem Erhalt des Projektes. Somit müssten sich eigentlich alle das Projekt nutzenden Personen auch an deren Durchführung beteiligen, was absolut nicht der Realität entspricht. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass hauptsächlich die am Plenum teilnehmenden Personen die für die Veranstaltungen durchzuführenden Arbeiten, wie Einlass, Tresen, Technik und kochen abdecken und damit zeitweise völlig überfordert sind. Alle anderen verlassen sich darauf, dass das Projekt schon irgendwie erhalten bleibt und nutzen dabei gedankenlos den ihnen meist kostenlos zur Verfügung gestellten Freiraum (aus).
WAS HABEN WIR NUN DAVON
Der jetzige Stand der Dinge
Von der ersten „Generation“ ist aufgrund privater und erwähnter inhaltlicher Gründe heute fast niemand mehr da. Die Anzahl derer, die gegangen sind, ist wesentlich größer als die, der neu dazugekommenen. Der Altersdurchschnitt der am Projekt Mitwirkenden ist somit ein ganzes Stück gestiegen. Immer weniger Leute müssen, vor allem durch den offiziellen Charakter des Projektes aber auch wegen fehlender Beteiligung aller ProjektnutzerInnen, immer mehr Arbeit leisten um alles überhaupt am Leben zu erhalten. So dreht sich der Hauptteil der Projektarbeit inzwischen schlicht um die Erhaltung des Ganzen, während Dinge wie Politik, die immer einen festen Platz gehabt haben, auch aufgrund von Überlastung der aktiven Personen, inzwischen fast vollständig unter den Tisch gefallen sind. Die Tatsache, dass immer weniger Leute die Entscheidungen treffen, lässt den Eindruck entstehen, dass festgefahrene hierarchische Strukturen bestünden, an denen man nur schwer teilhaben kann. Das Fehlen von politischen Veranstaltungen und politischen Gruppen unterschiedlicher Ausrichtung führte dazu, dass sich nur noch im privaten Rahmen mit Politik auseinandergesetzt wurde, nicht aber im Rahmen des Projektes. Das, und die fehlende Öffentlichkeitsarbeit führten dazu, dass sich die Spaltung und Anonymität zwischen den Leuten, die aktiv am Projekt mitwirken, und denjenigen, die schlicht die Veranstaltungen konsumieren, wesentlich vergrößert hat. Das Bewusstsein der KonsumentInnen, in was für einem Projekt sie sich befinden, ist heute teilweise gleich null. Das früher regelmäßig stattfindende Basisplenum, auf dem nicht die alltäglichen Dinge geklärt wurden, sondern auf dem Platz war für Selbstreflexion, für die Neudefinition von Ansprüchen, für die Klärung aufgetretener existentieller Probleme von innen und außen und für vieles mehr, findet schon seit Jahren wegen Zeitmangel nicht mehr statt. Die Außenwirkung des Projektes beschränkt sich für Nicht-Insider auf die kulturellen Veranstaltungen.
Das alles kann natürlich nicht nur isoliert auf die Reil78 oder Halle bezogen werden. Allgemein ist die Tendenz festzustellen, dass sich immer weniger Leute für Hausbesetzer- und Freiraumbewegungen interessieren, was eine Überalterung nach sich zieht. Auch die abnehmende Präsenz bzw. Existenz linker politischer Gruppen in der Öffentlichkeit, bzw. deren zunehmende Spaltung, ist ein allgemeines Phänomen, dem sich die Reilstraße nicht entziehen kann. Abgesehen davon wurden die Weichen für viele der dargelegten Probleme bereits von Anfang an unwiderruflich gestellt, indem sich das Projekt auf die Stadt einließ und sich damit auf die Ebene eines Vereines drängen ließ. Auch in dem Konzept einen Freiraum zu schaffen liegen bereits die Wurzeln später aufgetretener Probleme, da schon der Freiraum an sich, als „Insel“ in etwas anderem, schon die oft beklagte Isolation, Einkapselung, Einigelung und Versumpfung beinhaltet. All diese Punkte führten zu dem Spiraleneffekt, dass das Projekt von vielen nicht mehr als attraktiv empfunden wurde, so dass sich kaum neue Leute engagierten, während langjährige MitstreiterInnen enttäuscht oder ausgepowert das Projekt verließen, was alle genannten Probleme natürlich noch verstärkt hat. Geblieben ist ein Kern von Leuten, die fast alle des Öfteren im Projekt schlafen. Die Bauwagenflotte hat sich enorm vergrößert, auch um neue Leute an das Projekt zu binden. Das hatte den Effekt, dass das Außengelände nicht im selben Maße wie früher für diverse Aktivitäten genutzt wird, da der Raum um die Bauwagen von Außenstehenden oft nicht mehr als öffentlich zugänglicher Raum betrachtet wird.
In der Anfangskonzeption wurde die Notwendigkeit eines neuen Projektes in Halle folgendermaßen begründet:
„Freie Projekte, die ihre Dynamik aus dem Miteinander und der freien Entscheidung beziehen, gibt es in Halle kaum. Die kleine Zahl an Möglichkeiten beschränken sich auf wenige Nutzer, da die verkehrsgebundene Lage ungünstig ist oder die „Freiräume“ personell bereits belegt sind. Personen, die subkulturell engagiert sind, finden in alteingesessenen und bereits durchstrukturierten Projekten keine Möglichkeiten sich zu verwirklichen. Dies betrifft zum Teil zugezogene Hallenser, jüngere Generationen oder ausländische Mitbürger.“
Liest Mensch sich das heute durch, könnte bei oberflächlicher Betrachtung angenommen werden, dass inzwischen auch die Reil78 so ein alteingesessenes, durchstrukturiertes unoffenes Projekt geworden ist. Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass das nicht stimmt. Die anfängliche Konzeption besitzt in bezug auf alle Punkte immer noch ihre Gültigkeit. Dass viele Dinge im Projekt nicht (mehr) laufen, liegt nicht daran, dass es unmöglich wäre diese hier zu verwirklichen, sondern daran, dass sich einfach niemand darum kümmert und sich dafür einsetzt. Möglichkeiten sich hier zu verwirklichen gibt es nach wie vor viele. Die Offenheit und die Räumlichkeiten dafür sind vorhanden. Selbst Personen, die kein eigenes Projekt hier verwirklichen und sich einfach nur in das bestehende integrieren wollen, haben vielfältige Möglichkeiten das zu tun. Die Bar ist aufgrund von Personalmangel außerhalb von Veranstaltungen nur noch an drei Tagen geöffnet, wobei selbst das nicht immer gewährleistet ist. Das Sonntagsfrühstück, das als gemeinschaftliches Projekt gedacht war, wurde letztendlich von den immer gleichen Personen organisiert, die irgendwann verbittert aufgaben, so dass das Frühstück statt jeden Sonntag inzwischen nur noch einmal im Monat in der Reilstraße stattfindet. Auch die wöchentliche Mittwochsküche wird von den immer gleichen Personen gewährleistet. Die leider notwendige Vereinsarbeit lag teilweise jahrelang brach, so dass auch hier enormer Arbeitsbedarf besteht. Im Moment arbeiten wir an einer funktionierenden Buchhaltung und versuchen die Fähigkeiten zu erlangen in Zukunft und für die Vergangenheit die Steuererklärungen selbst machen zu können, auch um die inzwischen angedrohte Aberkennung der Gemeinnützigkeit abzuwenden. Das Haus kann immer noch mit den vielfältigsten kulturellen und politischen Veranstaltungen gefüllt werden. Auch bei den bereits laufenden Veranstaltungen sind immer zahlreiche HelferInnen gefragt. Die Möglichkeiten sich einzubringen sind also zahlreich, so dass von einer personellen Überbelegung des Freiraumes Reilstrasse78 keine Rede sein kann, ganz im Gegenteil. Auch die Entscheidungsstrukturen sind nicht so festgefahren wie sie von Außenstehenden oft wahrgenommen werden. Das Plenum ist offen für alle, die sich mit der Konzeption des Projektes identifizieren können. Genervtes Augenrollen als Reaktion auf Kritik von außen, bedeutet nicht die gewünschte Nichteinmischung. Missstände werden von uns selbst auch wahrgenommen, nur fehlt einfach oft die Kraft und die Zeit um sich um alles selbst zu kümmern, so dass auch oft mit Scheuklappen über das Gelände gegangen wird. Hier soll nämlich niemand der Hausmeister oder Dienstleister für andere sein, und alle die etwas stört, können auch selbst für eine Verbesserung sorgen. Alles ganz nach dem Motto:
REIL78 – VORBEIKOMMEN, MITMACHEN, MITENTSCHEIDEN – DENN ES IST AUCH DEIN PROJEKT.
VORDERHAUS und HINTERHAUS
Das Projekt und die Chaiselounge
Die Chaiselounge ist ein Teil des Projektes, wobei sie eher als Projekt im Projekt betrachtet werden muss, weshalb dieses Verhältnis hier auch unabhängig vom Rest betrachtet wird. Nach der gemeinsamen Besetzung übernahm sie einen Anteil an der von allen zu zahlenden Miete, handelte aber sonst ziemlich autonom in den ihr überlassenen Räumlichkeiten im Hinterhaus. Die Beziehung zwischen dem Vorderhaus und dem Hinterhaus waren dabei von Anfang an von Spannungen begleitet, die sich grundsätzlich auf die nicht geteilten Ansprüche zurückführen lassen. Dieses Problem wurde oft thematisiert, konnte aber nie wirklich geklärt werden. Im Hinterhaus fanden in regelmäßigen Abständen Partys statt, deren Größenordnungen die Veranstaltungen im Vorderhaus deutlich überstiegen. Dadurch entstanden mehrere Probleme. Zum Einen teilt die Chaiselounge nicht die Ansprüche des unkommerziellen Arbeitens, so dass bei deren Partys das Personal teilweise bezahlt wird. Zum Anderen ziehen die Partys ein Publikum an, das sich eindeutig nicht bewusst ist, worum es in dem Projekt geht. Es wird auf dem Gelände randaliert, versucht in Bauwagen einzubrechen und es werden rassistische und homophobe Parolen skandiert. Schlägereien sind keine Seltenheit. Das Gesamtprojekt erhielt Anzeigen wegen Ruhestörung. Ausbaden mussten das immer alle, wovon die meisten extrem genervt waren. Eine Zusammenarbeit fand fast nicht statt. Nur das Reilstraßenfest organisierte man gemeinsam, wobei es bis heute Leute in der Chaiselounge gibt, die darauf keinen Bock haben, wenn nicht genug Kohle abspringt. Auf dem Plenum erschienen VertreterInnen der Chaiselounge fast nie, wenn doch hatte das Ganze eher einen gezwungenen Charakter. Die Vereinsarbeit wurde allein vom Vorderhaus geleistet, wobei die Veranstaltungen der Chaiselounge immer wieder zusätzlichen Behördenärger verursachten. Neben den Anzeigen wegen Zerstörung und Ruhestörung wäre hier auch der Behördenansturm 2006 zu nennen, dessen Folgen vor allem das Vorderhaus zu tragen hatte. Geklärt werden konnten diese Probleme jahrelang fast nicht. Erst nachdem mit einem Rausschmiss gedroht wurde, erkannte auch die Chaiselounge den Ernst der Lage, woraufhin auf mehreren Plena über das Problem gesprochen wurde. Die Folge war, dass VertreterInnen der Chaiselounge inzwischen einigermaßen regelmäßig das Plenum besuchen, um über bevorstehende Partys zu informieren und um gelaufene Partys auszuwerten. Durch das Einstellen professioneller Sicherheitsleute halten sich die Ausschreitungen auf dem Gelände inzwischen in Grenzen. Dennoch ist das Verhältnis Vorderhaus – Hinterhaus für viele nicht befriedigend. Auf den Partys der Chaiselounge werden nach wie vor ein Grossteil der Ansprüche des Gesamtprojektes nicht erfüllt. Weder ist die Bezahlung von Mitarbeitern damit in Einklang zu bringen, noch ist das Gelände in der Zeit der Party ein antifaschistischer, antirassistischer und antisexistischer Freiraum. Ein Teil des Publikums zeichnet sich nach wie vor durch aggressives Verhalten und Rumgepöbel aus, die Masse des Publikums ist sich nicht bewusst, dass es sich nicht in irgendeinem Dienstleistungs-Abfeier-Club befindet, sondern in einem unkommerziellen Projekt mit Anspruch. Auch im Vorderhaus fanden Partys dieser Größenordnung statt, wo ähnliche Probleme aufgetreten sind. Erinnert sei hier an die legendären Antifa-Mixerpartys. Da wir die Probleme mit diversen Möchtegern-Gangs und anderen Schwachmaten, die sich Ein-Meter-Lines zogen um danach ordentlich abzuticken aber nicht eigenständig in den Griff bekamen, beschlossen wir auf Veranstaltungen dieser Art zu verzichten. Das Problem Vorderhaus – Hinterhaus wartet heute nach wie vor auf seine Lösung.
[21-03-2009]